GEBIRGSWEIHNACHT

Geschrieben am 27.12.2024
von Joachim Heisel


Eine alte Weihnachtsgeschichte aus dem Gebirge

Der alte Bichlbauer lag schwer atmend auf seinem Bett in der Stube. Das Betttuch hob sich schwer über seiner schmerzenden Brust auf und nieder. In der Nacht hatte ihn der Schlag getroffen und nun lag er hilflos da. Trotz der bitteren Kälte, die heuer am Christabend im Gebirge herrschte, war die Stube ungeheizt und am Fenster standen die Eisblumen vor dem grau verhangenen Himmel, der neuen Schnee im Tal ankündigte. Des Bichlbauers Frau war gerade vor einem Jahr am ersten Weihnachtstag verstorben. Am vierten Advent hatte sie sich mit einer Lungenentzündung niedergelegt. Der Doktor war aus dem Tal gekommen und hatte ihr einige von den neuen Arzneimitteln verschrieben, die es jetzt gab, aber die Bäuerin war jeden Tag schwächer geworden, sodass ihr Mann den Herrn Pfarrer kommen ließ. Der hatte der Bichlbäuerin noch in der Christnacht die letzte Ölung gespendet. Danach war die Kranke ruhig eingeschlafen. Nur der Schweiß stand ihr schwer auf der Stirn und die keuchende Atmung zeigte an, wie ernst es um sie stand. Gegen Morgen hatte sie noch einmal die fiebrigen Augen aufgeschlagen und zu ihrem Mann gesagt:„ Michel, wenn's halt sein muß, dass mich der Herrgott schon zu sich holen will, dann sei net traurig. Schau, dass unser Resi bald wieder heim kommt und sag ihr, das ich sie sehr lieb hab.“ - Dann war sie friedlich eingeschlafen und nicht mehr wach geworden.

Ihr ganzes Leben lang hatte die Bäuerin alle Schicksalsschläge mit gottergebenem Gleichmut ertragen, alle Krankheiten, auch den frühen Tod zweier Kinder, die ihnen der Herrgott geschenkt hatte. Aber der Fortgang der einzigen Tochter hatte ihr schwer zu schaffen gemacht. Resi war mit 18 Jahren von zu Hause weggegangen, nachdem ein junger Bursch, den sie beim Tanz im Nachbardorf kennengelernt, ihr den Kopf verdreht hatte. Sie hatte eine Stelle als Kellnerin in der Stadt angenommen, wo ihr Freund als Koch arbeitete. Nur einmal im Jahr an Weihnachten war sie heimgekommen, um die Eltern zu besuchen. Sie hatte bittere Tränen um die Mutter geweint, doch nach ein paar Tagen war sie wieder in die Stadt gegangen und hatte den Bichlbauer allein auf dem Hof zurückgelassen. An all das dachte jetzt der Bichlbauer, und es wurde ihm schwer ums Herz, wenn er an seine liebe verstorbene Frau dachte und die heißen Tränen liefen ihm die Wangen herunter.

Langsam legte sich die Nacht auf das Tal. Nur unten im Dorf sah man den Schein der Lichter und die Fenster der festlich erleuchteten Kirche, wo die letzten Vorbereitungen für die Feier der Christnacht getroffen wurden. In seinem Kummer verfiel der Bichlbauer in einen leichten Schlummer, als er plötzlich von draußen ein Klopfen hörte. Die Tür ging knarrend auf. „Wer da?“, rief der Bichlbauer. „Ich bin's, die Resi“, kam die Antwort. Resi ging hinein in die dunkle Stube und trat an das Bett des Vaters. Sie ergriff seine Hand und küßte sie. Der Bichlbauer zog sie zu sich herunter und strich ihr leise über das dunkle Haar. „Bist zu mir kimma, Resi, mei Dearndl“ sagte er schluchzend. „ Heut aufs Jahr ist die Mutter gestorben und jetzt ist es mit mir so weit. Mich hat der Schlag g'troffn, ich werd's neue Jahr wohl nimmer erleben. Geh und steck a Kerz'n an, damit ich dich anschaug'n kann.“ Resi stand langsam auf und suchte umständlich nach einer Kerze. Sie zündete sie an und stellte sie auf den Tisch. Man konnte jetzt sehen, dass sie schwanger war. Der Bichlbauer schaute ihr erst ins Gesicht und dann langsam an ihrem Körper herab.

„Ja, wie schaugst denn du aus“, sagte er zögernd, „du kriagst ja a Kind. Ja du kriegst ja a Kind, sagte er noch einmal langsam und gedehnt“ und versuchte, sich halb im Bett aufzurichten. Resi kniete sich neben den Vater auf den Boden. „Vater, sei net bös, i werd's Kind scho allein großziagn, weard an nix fehlen“.  „Was- alloa großziagn, eine Schande für uns. Gut, daß das die Mutter nicht mehr erleben muaßt.“ Der Bichlbauer wurde ganz blaß im Gesicht und dann ganz rot. Plötzlich schrie er: „Scher dich weg von hier, du Hure, bring deinen Bastard woanders zur Welt aber nicht bei mir. Raus, raus!“ Dann sank er erschöpft in sein Bett zurück. Resi spürte, wie sich ihr Leib zusammenkrampfte. Mit schweren Schritten taumelte sie auf die Tür zu, durch die sie so oft an der Hand von Vater und Mutter gegangen war, als sie noch ein Kind war. Einen Moment lehnte sie sich an den Türpfosten und spürte an der Stirn die eisige Kälte der Winternacht. Sie preßte den Kopf gegen das Holz, um einen schneidenden Schmerz in ihrem Leib zu betäuben. Eine große Mattigkeit überkam sie. Resi sackte an dem Türpfosten herab und blieb wie ein krankes Lamm auf der Schwelle liegen. Sie stöhnte leise. Der Schmerz wühlte in ihrem Bauch und ihr war, als wenn sich etwas aus ihrem Leib herauspressen wollte. Der Vater hatte sich ächzend im Bett aufgerichtet und versuchte, das Bett zu verlassen, aber die Beine knickten ihm ein wie zwei Hanfstengel, und er fiel vor dem Bett hin. „Resi, Resi, hilf mir“, wimmerte er. Aber Resi lag da mit offenem Mund, schwer atmend und preßte beide Hände fest gegen ihren Unterleib, mit der anderen zog sie sich langsam an der Türklinke hoch, die nachgab, sodaß die Tür aufsprang. Die kalte Winterluft fuhr in die Stube. Resi stolperte in den tiefen Schnee und stapfte mechanisch weiter hinaus in die Nacht. Im Tal hörte man die Glocken zum Einläuten der Christnacht. Der Nachbar vom Bichlbauer war der Horgetbauer. Die Horgetbäuerin hatte gerade die Stube gekehrt und begann, den Christbaum aufzustellen, als sie an der Türe ein merkwürdiges Geräusch hörte wie von einem kranken Tier oder sogar von einem Menschen. Sie lief zur Tür und öffnete. Vor der Tür lag Resi mit zusammen-gekrümmtem Leib, die Hände fest in den Schoß gedrückt, Hände und Gesicht ganz blau. „Mein Gott, Resi, was ist dir?“ Sie rief ihren Mann und beide zogen die Resi in die warme Stube. Jetzt erst sah die Bäuerin, in welchem Zustand die Resi war. Schnell machte sie Wasser heiß und bereitete alles für eine Entbindung vor, denn damit kannte sie sich aus. Sie war schon öfter als Hebamme tätig geworden, wenn auf einem Nachbarhof im Winter eine Frau entbinden mußte und kein Arzt zur Stelle war. Allmählich kehrte Farbe in das Gesicht der Resi zurück. Die Bäuerin strich ihr über die Wange. „Wird schon alles gut.“ Dass die Resi in die Stadt gezogen war, wußte sie, aber dass sie gleich ein Kind mitbringen würde und dazu noch ein Christkindl, hätte die Bäuerin nicht gedacht. „Wearst segn, es wird ein schönes Christkindl“, sagte sie ihr leise ins Ohr und zum ersten Mal seit langem kam wieder ein Lächeln über die Lippen von Resi. Dann fuhr wieder der schneidende Schmerz durch ihren ganzen Körper und sie wurde bewußtlos. Als sie wieder wach wurde, lag neben ihr ein schreiendes kleines Wesen – ihr Kind.

Die Horgetbäuerin beugte sich über die Resi und flüstere ihr zu: „Ein Bub ist's und gesund.“ Ein seliges Lächeln glitt über das Gesicht von Resi. Jetzt fühlte sie mit einem Mal eine so wohlige und selige Müdigkeit, dass sie sofort einschlief. Sie hatte einen schönen Traum. Als kleines Madl ging sie mit Vater und Mutter in die Heumahd. Es war ein wunderschöner Sommertag. Bei der Heimfahrt faßte sie der Vater und setzte sie mit einem Schwung auf den Heuwagen mit den Ochsen davor. Da saß sie und atmete den Geruch des frischen Heus und die Sonne und der blaue Himmel waren über ihr. Und der Vater sang ein Liedl dazu.

 Doch da wurde Resi plötzlich wach. „Jesses Horgetbäuerin“, rief sie, „Du mußt sofort nach dem Vater schauen. Er liegt auf dem Boden in der kalten Stub`n und kann sich nicht rühren.“ Sofort machte sich die Horgetbäuerin auf den Weg zum Hof des Bichlbauern. Es war ein klarer Weihnachtsmorgen, die Schneewolken waren einem strahlenden und glitzernden Wintertag gewichen und durch das ganze Tal hörte man klar und hell die Weihnachtsglocken läuten. Von weitem schon sah die Horgetbäuerin die Tür beim Bichlbauer weit offen stehen. Sie bekam einen großen Schrecken. „Mein Gott, bei derer Kälten, hoffentlich tut er das überlebn, der Bichlbauer“. Als sie in die Stube eintrat, fand sie den Bichlbauer immer noch am Boden liegend vor. Er atmete nur ganz schwach und war ganz blau angelaufen im Gesicht. Sie schloß die Tür und eilte, um ihren Mann zu Hilfe zu holen. Sie legten den Bichlbauer auf sein Bett und wärmten ihn von allen Seiten mit irdenen Wärmflaschen und warmen Ziegeln an. Am Abend schlug er die Augen wieder auf. „ Das Kind, das Kind“, stammelte er. „Magst das Christkind anschaugn net waohr, Bichlbauer. I werd dirs bringa.“ Die Horgetbäuerin wickelte das Kind in eine warme Decke und brachte es zum Bichlbauer. „Da hast dein Christkindl, Bichlbauer“, sagte sie und hielt es dem Alten an die Wange. Das Kindchen fuhr dem Bichlbauer mit seinen kleinen Händchen ins Gesicht. Der Bichlbauer weinte und versuchte, das Kindchen zu streicheln, aber er war zu schwach dazu. Am Tag darauf konnte die Resi ihren Vater besuchen. Der Bichlbauer weinte wieder und versuchte, ihr etwas zu sagen, aber über ein unverständliches Stammeln kam er nicht hinaus. Die Resi legte ihre Hand neben ihn. Der Bichlbauer tastete mit schwacher Hand nach der Hand seiner Tochter und führte sie zitternd an seinen Mund. Dann schlief er ruhig und friedlich ein.

Es gab noch kritische Tage, an denen Resi meinte, der Vater würde das neue Jahr nicht mehr erleben. Jeden Tag ging sie von der Horgetbäuerin, die sie fürs erste mit ihrem Kleinen bei sich aufgenommen hatte, hinüber zum Vater, gab ihm zu essen und zu trinken, so gut es ging und sorgte dafür, dass es in seiner Stube warm war. Nach und nach erholte sich der Bichlbauer wieder und am Neujahrstag stand er zum ersten Mal wieder auf. Resi brachte ihm das Kind. Er konnte es in den Arm nehmen und Tränen liefen ihm über die Wangen. „Mei Bua, mei Bua“, schluchzte er und es waren Tränen der Freude darüber, dass er eine Tochter und einen Enkel hatte.

Resi blieb bei ihrem Vater. Ihr Freund, der Koch, besuchte sie und seinen Sohn öfter. Nach einer Aussprache unter Männern, bei der ihm der Bichlbauer kräftig den Kopf gewaschen hatte, hielt er um die Hand der Resi an und übers Jahr fand die Hochzeit mir einem überglücklichen Brautvater statt.

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